2013 - Ein Jahr der Aufbrüche - Oder reanimierte Rückständigkeit?
Martin Jasper schrieb bereits vor einigen Wochen in der Braunschweiger Zeitung unter dem Titel "[url=http://www.braunschweiger-zeitung.de/kultur/buecher/1913-es-war-ein-voellig-ueberdrehtes-jahr-id850786.html
]1913 - „Es war ein völlig überdrehtes Jahr[/url]“ über das kürzlich erschienene Buch "1913" des Journalisten Florian Illies und fragte sich: "Ein Jahr, das in Braunschweig groß gefeiert wird. Ein Jahr der Aufbrüche, auch hier?"
Wie man erinnert, so auch das Image
Schon bei der Exhumierung Ottos im "Otto-Jahr" fraglich -
die Marketinglichen Königsmacher
(Cartoon by Ulenspiegel)
Fragt sich hierbei nicht auch, ob die Art und Weise, wie die Stadt und das Stadtmarketing diese "Rückerinnerung auf 1913" zu feiern gedenkt, ebenfalls rückständig ausfallen kann? Erst gestern musste man feststellen in einem nB-Hinweis der vorgesehenen Feierlichkeiten und Inhaltsstellungen, ob man wirklich die im Motto vorgesehene "Moderne" genügend berücksichtigt und ob man nun das Motto auch verändert hat, in dem es nun heißt "1913/2013 - Ein Jahr für ein Jahrhundert". Das verschiebt doch die Herangehensweise wesentlich, wie ich meine.
Jasper schreibt in der Braunschweiger Zeitung: Der Journalist Florian Illies hat ein sehr kluges, unterhaltsames und allseits hochgelobtes Buch geschrieben. Es heißt schlicht „1913“ und beschreibt dieses Jahr, als gäbe es kein Morgen. Als folgte ihm kein 1914. Als würde nicht im Jahr darauf die Welt untergehen. Wir Leser wissen das natürlich, aber Illies tut so, als wüsste er es nicht. Das macht den morbiden Charme dieses Buches aus..."
Kann man 1913 feiern und den folgenden Krieg verschweigen?
Ja, man möchte und kann. Aber ob das gut fürs Stadtimage ist?
Braunschweig steht bislang immer noch in dem Ruf, ziemlich braun gewesen zu sein zu Adolfs Zeiten, ja, ihm selbst den Boden zur Einbürgerung bereitet zu haben. Zudem ist unser OB selbst vorbelastet, um es mal dezent auszudrücken.
Diesem Ausklammerungs-Prinzip Ilies, so wissen wir, möchten Oberbürgermeister und Stadtmarketing offensichtlich ebenfalls folgen. Was für einen Journalisten, der ein unterhaltsames Buch verkaufen möchte, noch nützlich sein mag, wird einen Stadtchef und politisch agierenden Person als auch die Stadt mit ihrem Umgang mit der Historie schädigen bzw. befremdlich wirken lassen.
Selbst Illies Schilderung über den Aufbruch der Moderne in der Kunst, des Nachtlebens, Autoren wie Kafka und Thomas Mann und andere Portraits der Gesellschaft, sucht man in Braunschweigs Palette der Events vergeblich. Es wird sich auffällig zahlreich auf die Herzogshochzeit, auf alte Musik und auf das gefällige elitäre Lager konzentriert. Arme Leute, soziale Missstände, Aufbruch in neue gesellschaftliche und politische Regionen kann man mit der Lupe suchen.
Rückständiges Braunschweig
„Braunschweig war damals rückständig“ - heißt es im Artikel der Braunschweiger Zeitung - "Und der Krieg? Halb so wild. ...
Der in Braunschweig geborene, in Gifhorn als Geschichtslehrer tätige Andreas Matthies wies jüngst in einem Aufsatz darauf hin, dass das Herzogtum in vielen Belangen – ungerechtes Wahlrecht, mangelnde Gleichberechtigung der Frauen, Unterdrückung der Sozialdemokraten – rückständig war.
Wir sind das Volk - schon damals!
Da kommt es auf Differenzierung an, nicht der Braunschweiger an sich war es, es war die Doktrine ihrer Führungskräfte und das Festhalten der Bürgerkreise an altem Herzogsuntertanentum. Das kann leicht nachgewiesen werden. Allerdings möchte ich betonen, dass gerade in unserer Stadt damals die ersten Schritte hin zu mehr Demokratie und Mitsprache des Volkes sowie der Arbeiter unternommen wurden - und zwar durch große Teile der Stadtbevölkerung selbst. Es gäbe also wesentlich zu feiern als einzig die Hochzeit derjenigen, von denen das Volk die Schnauze gehörig voll hatte - knapp ein Jahr später und diesem herrschaftlichen Treiben knapp 5 Jahre später ein Ende bereitete.
WIR sind das Volk - schon damals! Aber das brach erst zur Novemberrevolution aus im Jahre 1918. Und daraufhin trat auch einen Tag später der deutsche Kaiser zurück. Aber genau darüber will ja die "Herzogshochzeitsfeier 1913" nichts verlauten lassen. Das Volk darf nur zum "Hochzeitsbrunchen", Bürgerbrunch für diesjahr ausgesetzt!
"Aus Braunschweiger Sicht ist Illies’ Buch freilich enttäuschend." -schreibt Jasper. "1913 soll doch hier 100 Jahre später groß gefeiert werden. Anlass: Die Hochzeit zwischen Kaisertochter und Welfenherzog in Berlin, welche dem Land Braunschweig wieder ein Regentenpaar bescherte. Diese Hochzeit taucht nur kurz auf in dem Buch. Die erste Erwähnung besteht aus einem lapidaren Satz: „Die preußische Kronprinzessin Viktoria Luise und Ernst August von Hannover küssen sich im Januar zum ersten Mal.“
Das damalige Berliner Tageblatt: „Es liegt in der Natur der Dinge, dass derartige persönliche Berührungen auch auf die politische Haltung der Kabinette abfärben, wenn auch nur in dem Sinne, dass auf allen Seiten
der Friedenswille noch etwas schärfer akzentuiert wird.“

Was aus diesem geschärften Friedenswille wurde, wissen wir. Der erste Weltkrieg und danach - aus ähnlichen Gründen - noch ein zweiter, ein noch verheerender.
Braunschweig kommt gar nicht vor
Ach ja, und der Name „Braunschweig“ kommt in dem gesamten Absatz über die Berliner Trauung nicht vor, schreibt Jasper weiter. "Für Florian Illies ist Braunschweig im Jahr 1913 offenbar nicht wichtig". War es das für Braunschweig?
Und so resümiert auch Jasper am Ende seines Beitrages: "1913, ein Jahr der Aufbrüche? In Braunschweig wohl kaum."
Schau' ich auf 2013 und diese reanimierten Hochzeitsfeierlichkeiten von 1913 , fragt sich, wohin wir da eigentlich aufbrechen sollen? Was feiern wir da eigentlich?

Klug, und auch besonders gewitzt wäre es, wenn es den Braunschweigern, Kulturschaffenden, berufenen Historikern und Politikern gelingen würde, sich das Thema 1913 so zurück zu erobern, wie damals - den Bürgern und nicht dem Adel oder dem OB gewidmet...
denkt sich
Ulensp!egel